Aus der Rubrik Alte Bücher, neue Ideen:
Donald A. Schön: The Reflective Practitioner. How Professionals Think in Action, New York: Basic Books
Das Buch von Donald A. Schön ist mir das erste Mal untergekommen, als ich begann, mich für die Tätigkeit als Fachleiter (für das Fach Philosophie) zu interessieren. Wo genau ich darauf gestoßen bin, vermag ich nicht zu rekonstruieren. Die Ideen von Schön sind unterdessen im erziehungswissenschaftlichen Diskurs recht weit verbreitet (vgl. dazu Abels 2010, S. 51 ff.), im Folgenden beziehe ich mich aber, ganz im Geiste der Rubrik, nur auf das Original.
Die Theorie-Praxis-Dichotomie in der Lehrerausbildung
Ausgangspunkt und Generator meines Erkenntnis- und Lektüreprozesses war seinerzeit die weithin konstatierte Dichotomie von (universitäts-)didaktischer Theorie und ‚gelebter‘ Unterrichtspraxis, die sich als Topos fest etabliert hat und mit der man als Fachleiter, als vermeintlicher Proponent von didaktischer Theorie und idealtypischer Pseudo-Praxis („Showstunde“), fortwährend konfrontiert ist. Formuliert man diese Dichotomie in aller – natürlich karikaturhaften – Schärfe aus, so hat man auf der einen Seite die sich jeder Praxiserfahrung enthaltenden (Elfenbeinturm-)Theoretiker und auf der anderen Seite die theoriefernen Praktiker, die ‚an der Front‘ im wirklichen Leben mit einer Mischung aus Instinkt und Lebenserfahrung agieren.
Diese Dichotomie hat vor einiger Zeit im #twitterlehrerzimmer eine Aktualisierung erfahren, als Axel Krommer, Philosophie- und Deutschdidaktiker sowie im besten Sinne streitbarer Verfechter einer an der Kultur der Digitalität orientierten Bildung, die von ihm so genannte „Nike-Didaktik“ kritiserte; der Slogan Just Do It wird von Krommer als Credo der reinen Praktiker interpretiert:
„[…] im sensiblen Bereich der Bildung wird immer häufiger der Ruf laut, man möge doch bei der Planung des Unterrichts auf das ewige Räsonieren verzichten, nicht länger auf die praxisfernen Reflexionen aus dem theoretischen Elfenbeinturm vertrauen und stattdessen einfach mal machen. (Krommer, S. 165)
In seiner – mit Kant gesprochen – ‚Kritik der reinen Praxis‘ weist er zurecht darauf hin, dass es theorielose Unterrichtspraxis eigentlich gar nicht geben kann:
Gesetzt den Fall, eine Unterrichtseinheit, die von Kollegin K nach dem Prinzip der Nike-Didaktik durchgeführt wurde, sei gelungen. […] Kollegin K war vor dem Beginn der Einheit tatsächlich nicht in der Lage, Prinzipien zu benennen, nach denen sie ihren Unterricht plant. Deswegen glaubte sie, den Grundsatz „Einfach machen!“ anwenden zu müssen. In der kritischen Retrospektive (und ggf. im Dialog mit anderen) wird ihr jedoch klar, warum die Gegenstände, Methoden, Medien, Sozialformen etc. sinnvoll waren, d.h. sie kann die Prinzipien, die leitend für die Planung waren, ex post explizit benennen. (Krommer, S. 166/167)
Auch der Einfach-mal-Macher denkt. [1] Die latente Theoriefeindlichkeit der reinen Praktiker ist in doppelter Hinsicht schädlich: Zum einen verstellt sie den notwendigen kritischen Blick auf die eigenen immer vorhandenen subjektiven Theorien, zum anderen verträgt sie sich nicht mit Wissenschaftsorientierung als einem zentralen Prinzip schulischen Unterrichts. [2]
Für Referendare ist die Theorie-Praxis-Dichotomie eine besondere Herausforderung, weil von ihnen die Verknüpfung von Theorie und Praxis in der Form einer „theoriegeleiteten Reflexion“ der eigenen Unterrichtspraxis in Unterrichtsentwürfen und Nachbesprechungen und nicht zuletzt auch in Staatsexamensprüfungen verlangt wird. Will man Seminar und Schule in der zweiten Phase der Lehrerausbildung nicht als völlig disparate Felder verstehen mit (theoriekonformen) „Showstunden“ auf der einen Seite und einer ‚echten‘ (theorie-entkoppelten) Praxis auf der anderen, kommt man nicht umhin, einen Weg zu suchen, wie man die vermeintlich entzweiten Domänen von Theorie und Praxis so versöhnen kann, dass diese Art der Reflexion möglich (und lehr- bzw. lernbar) wird. Und darüberhinaus möchte man ja vielleicht auch Lehrer*innen haben, die über ihr eigenes Tun in geeigneter Tiefe nachdenken. Ideen dazu finde ich in Donald A. Schöns Buch über den „Reflective Practitioner“.
Reflective Practice
Schön versteht sein Buch als Beitrag zu einer „Epistemology of Practice“. Die von ihm konturierte „Reflective Practice“ grenzt er ab gegen das konkurrierende und weithin dominierende Modell einer „Technical Rationality“, die berufliches Handeln versteht als „instrumental problem solving made rigorous by the application of scientific theory and technique“ (Schön, Pos. 356); der Praktiker exekutiert die Theorie, d. h. er setzt sie in der Praxis schlicht um. Diesem Modell, das theoriegeleitete Reflexion verkürzt auf bloße Anwendung, stellt er die „Reflective Practice“ gegenüber, die davon ausgeht, dass dem beruflichen Handeln eine eigene Form von Wissen zugrunde liegt, die über bloßes Theorie-Wissen hinausgeht und die Schön im Rückgang auf den Philosophen Gilbert Ryle (The Concept of Mind, 1949) „Knowing-in-action“ nennt, eine Art Erfahrungswissen, das nicht immer zwingend ausformuliert werden kann. [3]
Every competent practitioner can recognize phenomena […] for which he cannot give a reasonably accurate or complete description. In his day-to-day practice he makes innumerable judgments of quality for which he cannot state adequate criteria, and he displays skills for which he cannot state the rules and procedures. Even when he makes conscious use of research-based theories and techniques, he is dependent on tacit recognitions, judgments, and skillful performances.
Das Knowing-in-action bleibt solange gleichsam unsichtbar, wie es sich in der beruflichen Routine bewährt, erst wenn die „range of ordinary expectations“ (Pos. 1088) verlassen wird, wenn ein wie auch immer geartetes Problem auftritt und die Routinen versagen, tritt es in Erscheinung und bedarf der Neubewertung qua Reflexion. Der reflective practitioner begegnet diesem Problem mit „surprise, puzzlement, or confusion“ (Pos. 1091) und betrachtet die neue und einzigartige Praxis-Situation als eine Art Experiment: „He reflects on the phenomena before him, and on the prior understandings which have been implicit in his behavior. He carries out an experiment which serves to generate both a new understanding of the phenomena and a change in the situation.“ (Pos. 1093) Der reflektierende Praktiker wird gleichsam zum Erforscher der eigenen Praxis;
Dabei unterscheidet Schön zwei Varianten des Reflexionsprozesses, die reflection-on-action, das nachträgliche Bedenken des eigenen professionellen Handelns, und die reflection-in-action, bei dem Handeln und Denken unmittelbar miteinander verschränkt sind. [5]
Reflective Practice im Lehrerberuf und in der Ausbildung
Was Schön allgemein für berufliche Kontexte als reflective practice beschreibt, entspricht dem Prozess, den wir vollziehen, wenn wir die Planung und Durchführung von Unterricht reflektieren und Alternativen erwägen. Die Unterrichtsnachbesprechung oder die kollegiale Fallberatung sind Beispiele für reflection-on-action, pädagogische Intuitionen, flexible Reaktionen und notwendige Abweichungen von der Unterrichtsplanung entsprechen der reflection-in-action. Der Unterrichtsprofi beherrscht natürlich beides; er ist idealer Weise ein reflective practitioner. Damit er die dazu notwendigen Fähigkeiten ausbilden kann, muss er sich in der Ausbildung – also spätestens im Vorbereitungsdienst – in der reflection-on-action üben, um dann schließlich zunehmend reflection-in-action leisten zu können. Das ’ständige Reflektieren‘ im Referendariat wird gerne ironisiert; exemplarisch hier ein Tweet von @U_Hospitationen:
Dahinter steht vielleicht ein verkürztes Verständnis von Reflexion (nicht bei dem oben verlinkten Twitterer!), das im Akt des Reflektierens eine Art Exerzitium sieht, mit dem der Referendar der vermeintlichen überlegenen fachlichen Expertise von Ausbildern Tribut zollt und sich zerknirscht in Selbstkritik übt und umfangreich aufzählt, was er alles in der Planung falsch gemacht habe. (Schön würde vielleicht vermuten, dass diese Reflexion eher im Geist der oben genannten „Technical Rationality“ vollzogen wird, als Bestandsaufnahme der „falschen“ Anwendung der Theorie.)
Aber in der Reflective Practice geht es nicht um Exerzitien dieser Art, es geht um einen „wachen Blick“ auf das eigene Tun. Mit den von Schön identifizierten Elementen dieser reflektierten Praxis ist es möglich, diesen wachen Blick zu operationalisieren und erlernbar zu machen, so dass Reflexion eben kein hohles Ritual der Selbstgeißelung, sondern ein Erkenntnisprozess auf dem Weg zur Selbstprofessionalisierung ist.
Dazu gehört:
- Die Einsicht, dass es keine Patentrezepte gibt, die jeder Situation angemessen sind. Unterricht ist immer konkret, mit einer bestimmten Lerngruppe, ganz distinkten Lernvoraussetzungen und Rahmenbedingungen, die man in den Blick nehmen muss, wenn das Geplante sich in der aktuellen Situation nicht realisieren lässt. („The practitioner approaches the practice problem as a unique case. He does not act as though he had no relevant prior experiences; on the contrary. But he attends to the peculiarities of the situation at hand.“ Pos. 1941)
- Geht die Unterrichtsplanung nicht auf, so schaut man sich die Besonderheiten der Situation an, um das Problem zu erfassen und um im Rahmen eines reframing Alternativen entwickeln zu können. („[No practitioner] behaves as though he were looking for cues to a standard solution. Rather, each seeks to discover the particular features of his problematic situation, and from their gradual discovery, designs an intervention.“ Pos. 1943)
- Befähigt wird man dazu durch ein „repertoire of examples, images, understandings and actions“ (Pos. 2081); dieses Repertoire wird aber nun nicht als eine Sammlung von Patentrezepten genutzt, sondern flexibel gehandhabt: Was wäre gewesen, wenn ich nicht diese sondern jene didaktisch-methodische Entscheidung getroffen hätte?
- Vor dem Hintergrund der konkreten Situation („on action“ oder „in action“) wägt man die Vor- und Nachteile der jeweiligen Entscheidung ab; man steht – wie Schön – plastisch schreibt in einer „reflective conversation“ mit der konkreten Unterrichtssituation (Pos. 2452).
- Die Perspektive ist die des Unterrichtsprofis, der diese Situation (erneut) gestalten möchte (und die darin aufgetretenen Probleme kreativ-spontan zu lösen versucht); als solcher experimentiert man auf der Grundlage von Erfahrung und (geschulter) Intuition. („Reflection-in-action necessarily involves experiment.“ Pos. 2124) Maßstab ist nicht die Theorie oder die imaginierte ideale Unterrichtsstunde, sondern die tatsächliche Situation.
Dass Schön Metaphern („reflective conversation“) aufbietet, um die reflective practice darzustellen und nicht etwa Taxonomien von Kompetenzen, ist kein Zufall, sondern selbst Teil dieser Praxis: Im Nachdenken über ein Problem entwickelt der reflektierende Praktiker selbst „generative Metaphern“, die das Problem in einem neuen Licht erscheinen lassen. Eine Metapher, die ich z.B. gern bemühe, wenn es um Gesprächsführung im Unterricht geht: Gesprächsführung ist ein Improvisationstanz; es gibt eine ganze Reihe definierter Schritte und Figuren, aber keine verbindliche Choreographie jenseits von sehr allgemeinen Regeln einer guten Gesprächskultur, diese Choreographie muss durch die „Tanzenden“ gefunden werden – und zwar jedes Mal aufs Neue.
Zurück in die Zukunft: Reflective Practice und „zeitgemäßer Unterricht“
Donald A. Schöns Buch stammt aus dem Jahr 1983, und ist trotzdem unmittelbar anschlussfähig an Debatten, die derzeit im #twitterlehrerzimmer über #zeitgemäßeslernen geführt werden. Verblüffend zeitgemäß muten seine Ausführungen an, wenn er beschreibt, wie „reflective practitioner“ im System Schule agieren:
What happens in such an educational bureaucracy when a teacher begins to think and act not as technical expert but as reflective practitioner? Her reflection-in-action poses a potential threat to the dynamically conservative system in which she lives. (Pos. 4920)
Der Perspektivwechsel hin zur Reflective Practice hat auch Konsequenzen auf den Einsatz von (neuen digitalen) Medien, im Jargon der Zeit „educational technology“ genannt:
A reflective teacher needs a kind of educational technology which does more than extend her capacity to administer drill and practice. Most interesting to her is an educational technology which helps students to become aware of their own intuitive understandings, to fall into cognitive confusions and explore new directions of understanding and action. (Pos. 4938)
Und nicht zuletzt hat diese Praxis auch eine andere Form von Leistungsüberprüfung zur Folge, eine andere Prüfungskultur:
Accountability, evaluation, and supervision would acquire new meanings. There would be a shift from the search for centrally administered, objective measures of student progress, toward independent, qualitative judgments and narrative accounts of experience and performance in learning and teaching. (Pos. 4942)
Viele ’neue‘ Ideen in einem alten Buch – und genau darum geht es ja in dieser Rubrik.
Literatur
- Abels, Simone: LehrerInnen als „Reflective Practitioner“. Reflexionskompetenz für einen demokratieförderlichen Naturwissenschaftsunterricht, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011 (zugleich Diss. Uni Hamburg 2010).
- Krommer, Axel: Die Nike-Didaktik. Oder: Warum man auf den pädagogischen Grundsatz „Einfach machen“ verzichten kann, in: Krommer et al.: Routenplaner #Digitale Bildung. Auf dem Weg zu zeitgemäßem Lernen. Eine Orientierungshilfe im digitalen Wandel, Hamburg: ZLL21 2019, S. 165–168. (Der Beitrag erschien ursprünglich 2018 auf Krommers Blog.)
- Schön, Donald Alan: The Reflective Practitioner. How Professionals Think in Action, New York: Basic Books 1983. (Ich zitiere allerdings aus der Kindle-Version.)
Fußnoten
[1] Dass es möglicherweise praxisferne (fach-)didaktische Theorie gibt, die – wieder mit Kant gesprochen – „leer“ bleibt, kann nicht so leicht ausgeschlossen werden, bleibt aber hier außer Betracht.
[2] Die Ursache dafür mag die universitäre Geringschätzung gelingender schulischer Praxis sein, die sich etwa in den (diesbezüglich eher übersichtlichen) schulpraktischen Voraussetzungen für die universitäre Einstellung als Fachdidaktiker manifestiert; aber auch das ist hier jetzt nicht das eigentliche Thema.
[3] Geschulte Philosophen denken hier natürlich direkt an nicht-propositionale Formen von Wissen und Erkenntnis; auch das Konzept des impliziten Wissens (M. Polanyi) gehört in diesen Dunstkreis.
[4] Robert Gücker hat den Prozess in einem übersichtlichen Schema dargestellt, das im deutschen Wikipedia-Artikel zu Donald A. Schön reproduziert ist.